Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Ich bin am 17. [April 1755 ]um 2 Uhr hier angekommen. Ich habe gestern den ganzen Adel gesehen. Danach hat man mich durch die Enge der Stadt geführt, wo es 2 großartige Straßen gibt. Man sieht dort die prunkvollsten Paläste, aber die Schönheit daran ist durch den Straßenverlauf verwischt worden. Ich bin anschließend im Garten Doria gewesen, der nichts Einmaliges hat außer der Aussicht. Sie geht auf das von Schiffen bedeckte Meer hinaus. Vom Hafen aus sieht man auf einer Seite die Stadt, welche auf einem Berg wie ein Amphitheater gebaut ist. Es gibt nichts diesem Anblick Vergleichbares. Ich habe heute einen Rundgang durch die Kirchen gemacht. Ich war beeindruckt von der Pracht, dem Geschmack und der Kunst, welche in diesen Bauwerken herrscht; was das Äußere anbelangt, so haben sie nichts Außergewöhnliches. Aber das Innere überrascht; wiewohl das, was es hier gibt nur Plunder sein soll, im Vergleich zu Rom. Soweit ich es einschätzen kann, sind die Damen hier äußerst liebenswürdig. Keine Schönheiten, aber von zuvorkommender Art, die einem behagt. Madame Grimaldi hat sehr viel Verstand und ist belesen, sie spricht ein wenig Französisch. Aber der Großteil der Damen kennt nur ihre Sprache. Sie haben mir alle gesagt, dass sie gute Französinnen und Preußinnen wären. Ich bin [so ]ermüdet von der Reise und den Ausflügen, die ich diesen Morgen unternommen habe, dass ich kaum diesen Brief beenden kann. Mein Herz bleibt immer dasselbe und es verlangt nur, Sie von der Hochachtung und der Zuneigung zu überzeugen, mit welcher ich auf ewig bin,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste, gehorsame Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Genua, den 19. April 1755.)