Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Ich habe eine Woche recht grausam verbracht, da ich nicht die Freude hatte, Ihnen zu schreiben. Ich habe eine sehr anstrengende Reise gehabt aufgrund der Hitze, die von Tag zu Tag zunimmt. Und ich bin entzückt, mich hier zu befinden, um mein bevorzugtes Vergnügen zu genießen, das darin besteht, mein teurer Bruder, Ihnen meine Empfindungen nachzuzeichnen. Wir rechnen damit, übermorgen von hier wieder abzureisen. Dieser Aufenthalt ist sehr langweilig. Es gibt nichts Bemerkenswertes außer einigen Gemälden. Aber da ich daran gewöhnt bin, Ihnen Geschichten nach Großmutters Art zu erzählen, werde ich Sie heute mit Musik unterhalten. Ich traf Paolino und Amadori hier. Wie viele Fragen habe ich dem ersten doch gestellt! Und welche Freude habe ich doch gehabt, jemanden zu sehen, der Ihnen zugehört! Vergeben Sie die Einlassung, sie ist sehr natürlich für jemand, der Sie so sehr liebt wie ich. Ich komme auf mein Thema zurück. Ich habe alles, was es an Sängern in Bologna gab, versammeln lassen. Der alte Bernacchi selbst hat eine Arie mit zittriger Stimme gesungen und hat mir seine Lehrmethode beigebracht, die einen Musiker erbeben lässt. Ich habe nichts Hervorragendes unter all jenen, die ich hörte, gefunden. Es waren alles schwache oder unangenehme Stimmen. Jedoch herrscht der gute Geschmack noch immer in Bologna. Aus dem Grund findet man Vergnügen daran, Leute singen zu hören, die kraft ihrer Geschicklichkeit erträglich und sogar angenehm machen, was sonst nicht auszuhalten wäre. Ich habe in Fano ein sehr gutes Exemplar vorgefunden, welches sich Giovanni Belardi In ihrem Reisebericht #60 Tagebuch, 2002: 88 f. mit Anm. 344, notiert Wilhelmine ihren Aufenthalt „im Haus des Conte Marcolini“ in Fano sowie das Konzert mit Belardi. {Nach #135 Müssel, 1958: 125 und vor allem #280 Müssel, 1975: 185-186 mit Anm. 44, lässt sich aus einem Brief Papst Benedikts XIV. v. 21.01.1756, nach dem Besuch von Markgräfin Wilhelmine, an Kardinal Tencin (1679–1758) in Lyon folgern, dass sie während ihres Rom-Besuchs „von Herrn Marcolini begleitet wurde“. Es handelt sich um Kardinal Marcantonio Marcolini (1721–1782).} {Zur Familie Marcolini und deren Beziehungen zum Kurfürstentum Sachsen, siehe: #316 Lippert, 1899: 111–128.} {Zu Kardinal Marcolini, cfr.: #186 Seidler/Weber 2007: 587 mit Anm. 195 u. #317 Marcolini, 1998-2018.} {Weitere Korrespondenz zwischen Papst Benedikt XIV. u. Kardinal Tencin über den Rom-Besuch des Markgrafenpaares, siehe: #351 Heeckeren, 1912, Bd. 2:410 f. [Brief v. 07.05.1755], 417–419 [Brief v. 11.06.1755], 422 f. [Brief v. 02.07.1755], 426–427 [Brief v. 23.07.1755] u. 473–475 [Brief v. 21.01.1756].} nennt. Er singt in der Art von Salimbeni. Seine Stimme hat einen großen Umfang (Ambitus), aber sie ist in den Spitzentönen ein wenig gezwungen. Seine Gestalt ist sehr hübsch. Er ist auf fünf Jahre in Rom als Prima Donna verpflichtet. Es ist meines Erachtens das Beste, was es in Italien gibt. Die Begleitung ist abscheulich. Die Instrumentalvorspiele werden so schlecht ausgeführt, dass man nicht weiß, was es sein soll. Doch man spendet den Violinisten großartigen Beifall, die nicht einmal verdienten, die letzten in Ihrem Orchester zu sein. Ich werde die Ehre haben, Ihnen zu schreiben, sobald ich in Venedig bin. Mir bleibt nur die Zeit, Ihnen die Zuneigung und die tiefe Hochachtung zu wiederholen, mit welchen ich bis ins Grab sein werde,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste, gehorsame Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Bologna, den 10. Juli 1755.)