Perspectivia

(Erlangen, den 13. August 1755

Ich kann Ihnen nicht sagen, mein lieber Bruder, wie sehr ich erschreckt war, als ich von dem Unfall des Königs Friedrich II. hatte am 28. Juli 1755 einen Reitunfall, er ist von seinem Pferd gestürzt und hat sich dabei offenbar auch zwei Zähne ausgeschlagen. In seinem Brief vom 1. August 1755 an seinen Bruder Heinrich berichtet er gewohnt ironisch über sein Malheur: «Je suis tombé de cheval, aussi mauvais écuyer que saint Paul, mais je ne me suis pas encore converti de même. Il ne me reste de ma chute qu'une physionomie chiffonnée, et faite plutôt pour le carnaval que pour l'usage ordinaire de la vie.» {cfr.: #4 Œuvres Frédéric, 1846-1857, hier: Bd. 26: 183 f. und #5 friedrich.uni-trier.de: 26_/183/text/.} erfahren habe. Obgleich Sie mir versicherten, dass es nichts mehr zu befürchten gibt, bin ich noch immer tausendfach beunruhigt. Und ich zittere, wen ich nur an die Gefahr denke, der er ausgesetzt war. Man fühlt niemals so stark, wie bei solchen Gelegenheiten, was es heißt, zu lieben. Schon allein der Gedanke, jemanden verlieren zu können, an dem mein Herz hängt, kann mich in Melancholie versetzen. Ich glaube, dass ich in einem solchen Fall nicht überleben würde. Sie können folglich urteilen, wie viel Eindruck Ihr Brief mir gemacht hat. Dieser besteht dennoch nicht allein aus Schmerz. Ihre Gefühlsäußerungen [die Form, edel zu denken ]und Ihre Art zu denken, haben mich begeistert. Ich habe Ihr Herz immer besser gekannt, als Sie selbst es gekannt haben. Ich habe seinen ganzen Wert erkannt, und sehe, dass ich mich nicht getäuscht habe. Ihr Brief verdiente es, in goldenen Buchstaben geschrieben zu sein. Wäre es möglich, würde er meine Zuneigung für Sie vervielfachen. Ihre Art zu handeln wird den König von Ihrer Verbundenheit für ihn überzeugen. Ich habe es Ihnen tausendmal gesagt, er ist empfindsam, und wird eine Zuneigung nur verdoppeln können, die niemals aufgehört hat, aber die einige bösartige Wolken vielleicht verdüstert haben. | Berichten Sie mir, ich ersuche Sie[ darum], wie Amelie den Tod ihrer Äbtissin aufgenommen hat. Sie schreiben mir nichts davon. Also hoffe ich, dass sie vernünftig gewesen ist. Ich kann Ihnen keine Besonderheiten von der Galerie von Herculaneum erzählen. Man hat mir rundweg verweigert, sie anzusehen. Und überdies wurde ich in Neapel wie ein kleiner Hund behandelt. Ich habe dem König den ganzen Bericht meiner Fehlschläge geschrieben, der deswegen äußerst gereizt ist. Was die Stadt selbst betrifft, so [ist ]sie nur wie eine Mine, deren Mauern mit Lava bedeckt sind, und wo man nicht das Geringste sieht. Es gibt kleine Gänge in dieser Mine, wo man auf gut Glück gräbt. [Ich habe g ]Man entdeckte zu der Zeit, da ich dort war, einen Mosaikboden. Sobald man eine Mauer findet, folgt man ihr und urteilt somit, dass es eine Straße ist, denn man muss es erraten. Sie erweisen mir viel Ehre, mich so einzuschätzen, dass ich die Antiken und die Gemälde kenne. – Ich selbst war süchtig danach. Aber als ich in Italien eintraf, ließ ich mir Gerechtigkeit widerfahren, und stellte fest, dass ich eine große Ignorantin war. Ich habe mich jedoch so ausgiebig mit diesen beiden Gattungen beschäftigt, dass ich glaube, dass man mich schwerlich täuschen wird. | Die Statuen und Reliefs sind ein äußerst leichtes Studium. Es gibt keinen einzigen Bildhauer, der sie jemals hätte kopieren und nachahmen können, denn es gibt gewisse Anzeichen, die sie nicht fälschen können. Ebenso wenig können die Maler die großen alten Meister kopieren, da es gewisse Pinselführungen gibt, die man gut erkennt, und die man mit aller Kunst der Welt nicht fälschen könnte. Es gibt Gemälde, welche die gleichen Motive darstellen; Originale und Kopien vom selben Meister; Sie sind folglich unmöglich auseinander zu halten, was die Connaisseure anerkennen. Die Schummeleien geschehen eigentlich bei Bronzen, zweitklassigen Gemälden und bei den Kameen. Schließlich riskiert man nichts, wenn man an Ort und Stelle ist, weil man unter tausend Leuten nur eine findet, die man zu Rate ziehen kann. Florenz, Rom und Pozzuoli sind drei köstliche Aufenthaltsorte der Köstlichkeiten, die ich niemals vergessen werde. Und ich gestehe Ihnen, dass ich in der Lage wäre, meine Geschmeide zu verkaufen, um dorthin zurück zu kehren. Venedig und die anderen Städte haben mir nicht gefallen. Was auch immer Algarotti davon sagen mag, Venedig ist ein unschöner Aufenthaltsort, verpestet vom Gestank der Kanäle und der Schweinerei der Bewohner. {Obgleich Wilhelmine und ihr Gemahl nur wenige Tage in Venedig blieben, war das Besuchsprogramm dicht gedrängt, davon geben die Eintragungen im #60 Tagebuch, 2002: 90 f., einen Eindruck: Wilhelmine besuchte den Dogenpalast, zweimal den Dom San Marco, ist Gast zweier Konzerte, im Ospedale dei Mendicanti sowie im Ospedale degl'Incurabili, vgl. #184 Brief vom 25. Juli 1755 [mit Anm. 5 in der dt. Übersetzung, und „prominierte“ in Gondeln; vgl. auch #135 Müssel, 1958: 126, 127.} Alle bedeutsamen Sehenswürdigkeiten [sind ]in gotischem Stil, ausgenommen einige Bauwerke von Palladio, die denen von Michelangelo in Rom nicht nahekommen. Inkognito ist es dort hundslangweilig, da niemand wagt, Sie anzusprechen, und wenn man Sie erkannt hat, macht man Sie vor Zwang und Zeremoniell rasend. Sie können keinen Schritt machen, ohne zwei Adlige auf den Fersen zu haben und zwei Damen, die Sie überall hin begleiten. Diese Stadt verdient nur in Bezug auf die Gemälde angesehen zu werden. Es gibt dort zahlreiche von Paolo Veronese und von Tintoretto, der denen von Rom den Rang abläuft. An Antiken findet man nichts mehr, sobald man Rimini hinter sich gelassen hat. Ich wollte etwas haben, um Sie zu unterhalten, wenn ich Sie wiedersehen werde. Gebe der Himmel, dass es bald sein möge. Adieu, teurer Bruder. Geben Sie mir, ich ersuche Sie, Nachrichten vom König. Und seien Sie überzeugt, dass ich ganz die Ihrige bin

Wilhelmine

[postscriptum:]
Tausend herzliche Grüße an Heinrich und Amelie.)