Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Dies ist der letzte Brief, den ich die Ehre habe, Ihnen von hier zu schreiben. Wir reisen übermorgen nach Avignon ab, wo der Marquis des Essarts uns sein Haus überlassen hat. Ich verlasse Lyon mit sehr großem Bedauern. Ich habe mir dort eine bezaubernde Gesellschaft geschaffen, die ich in Avignon nicht wiederfinden werde. Neben den Patres Berceau und Jouve, die sehr gelehrt und dazu sehr liebenswürdig und Leute von Welt sind, habe ich noch den berühmten Vaucanson entdeckt, mit welchem ich an den vergangenen Tagen Bekanntschaft gemacht habe. Er schäumt über vor Lebhaftigkeit, er ist sehr belesen und scheint ein Satiriker zu sein, man würde nicht sagen, dass er sein Leben mit Automaten verbringt und damit, solche zusammenzubauen. Jacques de Vaucansons und seine Automaten – ein mechanischer Flötenspieler, ein mechanischer Tambourinspieler und eine mechanische Ente – machten in den 1740er Jahren an den europäischen Höfen Furore. In einem Brief vom 18. Oktober 1748 berichtet Wilhelmine an Friedrich II., dass sie „hier die Automaten von Vaucanson gesehen“ haben: {#7 Volz, 1924-1926: 154.} Es war nicht der Ingenieur und geniale Konstrukteur selbst, der seine kühnen Erfindungen vorführte: Diese drei Automaten hatte Vaucanson bereits 1743 an „3 Banquiers zu Lyon“ {cfr.: #387 Intelligenzblatt, 1801: Sp. 1886–1888, hier: Sp. 1886}, notariell beglaubigt, verkauft. Einer der „Investoren“, Pierre Dumoulin (Lebensdaten unbekannt), ein „Parfümeur und Handschuhmacher“ {#114 Yearsley, 2002: 174–175}, tourte mit den zwei mechanischen Musikern und der Ente durch deutsche Lande und Fürstentümer und machte u. a. 1748 vermutlich auch in Bayreuth und Umgebung Halt. 1752/1753 bot er für „12.000 florins“ die Automaten Markgraf Friedrich III. an. Der Kauf kam nicht zustande, so dass Dumoulin sein Glück in St. Petersburg suchte. 1785 erwarb Gottfried Christoph Beireis (1730–1809), ein Arzt, Naturwissenschaftler u. Sammler aus Helmstedt, die Automaten von einem Nürnberger Bankier, der deren Echtheit mittels des notariellen Kaufvertrags vom „12 Februar 1743“ dokumentieren konnte: {cfr.: #387 Intelligenzblatt, 1801: Sp. 1886.} Mit der lapidaren Nachricht vom 30. April 1808 in der „Augsburgischen Ordinari Postzeitung“ endet die Automaten-Geschichte: „Dem Vernehmen nach hat die französische Regierung Herrn Baireis zu Helmstädt sein kostbares Kunstkabinett, das auf mehr als 800,000 Livres geschätzt wird, abgekauft. Es enthält unter Anderem 3 berühmte Automaten, den Flötenspieler, die Ente, und den Trommelschläger.“ {Cfr: #364 Augsburgische Ordinari Postzeitung, 1808: 3.} Er ist deswegen immer in Streitereien mit den Jesuiten, denn er ist nichts weniger als ein guter Katholik. Dies macht die Unterhaltung sehr lebendig. Ich habe die wichtigsten Kirchen gesehen, worin es schöne italienische Gemälde gibt, von Palma Die Kirche Saint-Nizier, in der Wilhelmine das Palmas Gemälde „Geißelung Christi“ (um 1620) gesehen hat, ist seinerzeit der älteste Kirchenbau Lyons (Baubeginn ca. Ende des 14 Jhs.). Die Französische Revolution u. die Belagerung Lyons durch die Armeen des Konvents verursachten großen Schaden an Saint-Nizier. Die Kirche wurde geplündert und später zu einem Mehldepot deklariert. 1796 plante man die Demontage von Saint-Nizier und deren Umwandlung in eine überdachte Passage mit Geschäften. Seit 1802 wird sie wieder als Gotteshaus genutzt. {Cfr.: #299 Brossette, 1711: 88 ff., passim.} {Cfr.: #115 Clapasson, 1761/1982: 103-109; zur Kirche, Pfarrei und Viertel, s. auch: #426 Rau, 2014: 129–131, 179–181 u. 215–219.}, von Salviati, und von Vanni[ auch: Vannius]. Ein van Loo und ein Blanchet haben mich sehr erstaunt. Erstes stellt einen Heiligen Sebastian dar, der meines Erachtens vorzüglich ist, das andere ist das Bildnis eines Parlamentsvorsitzenden, welches im Stil von Rembrandt gemalt ist. Was mich überrascht, ist, dass man hier den Wert dieser Dinge nicht erkennt. Wir haben unendliche Mühe gehabt, sie aufzustöbern, die Eigentümer kannten die Maler nicht. Es gibt in einer dieser Kirchen 4 Säulen aus Granit, welche einen Augustus geweihten Tempel stützten, eine jede war 25 Fuß hoch. Man hat sie gekappt, um 4 daraus zu machen. Der Fußboden des Altars ist aus einem Mosaik, das im selben Tempel gefunden worden ist. Wir haben noch einige Runden zu machen, um uns zu erkundigen, was es hier an Interessantem gibt. Das Wetter ist so mild, dass ich den Pelz beiseite lassen kann. Man sagt, dass es noch einen großen Unterschied zwischen diesem Klima und dem in Avignon gibt, wo noch Sommer ist und die Blätter noch nicht gefallen sind.
Obwohl es von hier nur 36 deutsche Meilen sind, werden wir 8 oder 10 Tage unterwegs sein, da wir uns in Vienne, in Valance und in Nîmes aufhalten wollen, wo die allerschönsten antiken Denkmäler sind. Ich hege so viel Verehrung für die alten Römer, dass ich diese Dinge mit ebensoviel Hochachtung betrachte, welche man hier für die Reliquien hat. Ich fürchte, dass meine langen Berichte Sie doch langweilen, mein teuerster Bruder. Ich verfalle auf den Fehler der alten Frauen, die es lieben, zu erzählen, oder vielmehr lasse ich mich vom Vergnügen mitreißen, Ihnen zu schreiben. Verzeihen Sie bitte das Durcheinander meiner Briefe, ich schreibe alle Tage einen kleinen[ Abschnitt][?], um wenigstens eine Viertelstunde angenehm zu verbringen. Ich empfehle mich Ihrem kostbaren Angedenken und bin mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

Mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste und gehorsamste Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Lyon, den 16. November 1754.)