Perspectivia

([o. O. ][Berlin ]den 26. Dezember 1754

Meine teuerste Schwester
Ich habe das Vergnügen gehabt, einen Brief datiert aus Avignon von Ihnen zu empfangen. Ich bin erstaunt, meine teure Schwester, dass Sie dort unter der Kälte leiden sollten. Es ist ein recht mildes Klima, das obendrein vom Papst gesegnet ist. Ich bin äußerst erstaunt über alles, was Sie mir in Ihrem Brief sagen. Man sieht indessen überall, je größer ein Staat ist, desto weniger kann er im Einzelnen gut verwaltet werden. Das alte Sprichwort ist hinreichend wahr, welches besagt, dass die Welt von Missbräuchen bewegt wird. Wie ist es möglich, dass die Regierung, welche sich in Versailles befindet, in Kenntnis gesetzt würde, von dem ganzen Raubbau der Steuerpächter, welche das gemeine Volk aussaugen? Wie kann sie [die Regierung ]so vielen Missbräuchen abhelfen, wenn jene, die sie untersuchen sollten, weder vor Korruption gefeit noch unbescholten sind? Eine der Quellen der Übel, die Sie in Frankreich bemerken, ist unbestritten das Ansehen, das einem die Reichtümer in diesem Land verschaffen Man legt Wert auf jene, die wohlhabend sind, die große Ausgaben machen, und niemand erkundigt sich, mit welcher Schändlichkeit sie sich diese Reichtümer angeeignet haben. Daher rührt das Verlangen, sich zu bereichern, die Missachtung der Ehre, der Tugend und die gänzliche Verderbnis der Sitten. Ich sage nicht, dass ich die ganze Nation der Laster der Hauptstadt bezichtige. Und man könnte von den unbestechlichen Leuten sagen, was Boileau von den keuschen Frauen Friedrich II. bezieht sich in seiner Betrachtung auf Boileaus Satire X: «Et que mesme aujourd’hui sur ce fameux modelle, / On peut trouver encor quelque Femmes fidelle. / Sans doute; & dans Paris, si je sçay bien compter, / Il en est jusqu’à trois, que je pourrois citer.» {Der König besaß in seiner Bibliothek u. a. eine zweibändige Ausgabe der Werke Boileaus von 1740, nach der hier zitiert wird: #126 Boileau, 1740, Bd. 1: 99, Vv. 41–44.} Die Exemplare aus der Privatbibliothek Friedrichs II. (Schloss Charlottenburg und Schloss Breslau) gehören zu den Kriegsverlusten der SPSG (Signatur: Ch 39 u. Br 87a). [CW/reh] sagt, aber diese kleine Anzahl von tugendhaften Menschen genügt nicht, um das Schlechte zu beheben, das sich über lange Jahre in der inneren Verwaltung der Regierung festgesetzt hat; um diese Unordnung zu beheben, bedürfte es sehr viel mehr Entschiedenheit. Man müsste gegen die Schuldigen durchgreifen, und vor allem in allen Ständen das Verdienst den Reichtümern und der Abkunft vorziehen. Die Franzosen machen sich über mich lustig, wenn sie mich loben, oder haben einige Nachsicht wegen der Güte, mit der Sie mich ehren. Mein Talent reicht nicht aus, um eine so umfangreiche Aufgabe zu bewältigen, wie jene, der es bedürfte, um die Missbräuche in diesem Königreich abzustellen. Ich habe hier viele Angelegenheiten am Halse, mit denen ich mich mühevoll herumplage, ohne dass ich ein so ausgedehntes Königreich zu regieren haben wollte. Schließlich sofern ich vernähme, meine teure Schwester, dass Sie sich wohl befinden, wird mir dies die allerangenehmste Nachricht sein, die ich aus Frankreich empfangen könnte. Ich wünsche aus meinem ganzen Herzen, dass Sie dort angenehm Ihre Zeit verbringen mögen, dass Sie dort das neue Jahr gut beginnen und dass Sie niemals einen Bruder vergessen, der immer mit der zärtlichsten Freundschaft sein wird,

Meine teuerste Schwester,
Ihr getreuer Bruder und Diener

Friedrich.)