Perspectivia

([o. O. ][Berlin ]den 1. Januar 1755

Meine teuerste Schwester.
Es tut mir sehr leid, Ihrem Brief zu entnehmen, dass Sie immer noch unter Ihren alten Unannehmlichkeiten leiden, und dass Sie Ihre Reise nicht mehr unter einem so günstigen Vorzeichen sehen, wie Sie es zu Beginn getan haben. Sie mussten darauf gefasst sein, dass man Ihnen den besten Empfang bereitet, und darauf, ein Menschengewühl um Sie herum zu finden. Aber erlauben Sie mir, Ihnen gegenüber freiheraus zu reden: Könnte es nicht irgendeine kleine Eifersucht geben, die Sie da unten plagt? Ich wage es Ihnen kaum zu sagen, aber ich vermute es. Sie sind, meine teure Schwester, in einem Lande, wo die Eroberung der Frauen nicht schwierig ist, und wo man aus Aufmerksamkeit den Fremden gegenüber vielleicht sogar Avancen macht. Sie sollten darauf gefasst sein, und ganz auf diese Art von Geduldsspiel vorbereitet, nach Montpellier abreisen. Ich habe in irgendeinem Buch, gelesen, dass eine Person, das Empfinden genannt, sich in einen Schmetterling verliebte. Als sie glaubte, ihn zu halten, entflog er, um Nektar auf einem Beet zu sammeln. Sie verfolgte ihn immer, und er entwischte ihr ebenso oft. Sie verzweifelte, ihre schönen Tage verrannen in Gerührtheit. Sie war sogar auf das Beet eifersüchtig, welches ihr ihren teuren Schmetterling genommen hatte. Da ging eine Fee vorbei, genannt die Moral, welche zu ihr sagte: „Worüber sind Sie traurig, mein liebes Kind?“ Sie antwortete ihr: „Dass ein Schmetterling, den ich so aufrichtig liebe, sich als das flatterhafteste der Tiere herausstellt“. Die Fee entgegnete: „Sie wollen also, dass ein Schmetterling kein Schmetterling sein solle? Das heißt, die Torheit um gesunden Menschenverstand zu bitten, einen Felsen um Gefühle. Das heißt, kurz gesagt zu wünschen, dass der Stier Flügel habe und die Adler Hörner. Das heißt, sich darum Kummer zu machen, dass die Flüsse ohne Unterlass dahinfließen und unsere Erdkugel ununterbrochen die gleiche ovale Kurve um die Sonne herum beschreibt. Man ändert nicht die Natur der Dinge, noch die Neigungen, welche man bei der Geburt mit auf die Welt mitbringt. Aber wenn es nicht heißt, Sie um Unmögliches zu bitten, lassen Sie Ihre Eifersucht vergehen. Erfreuen Sie sich, wenn Ihr teurer Schmetterling zu Ihnen kommt. Und gewöhnen Sie sich daran, dass er Sie oft verlässt.“ Sie werden vielleicht sagen, meine teure Schwester, dass meine Fabel dumm ist, und dass derjenige, welcher sie Ihnen schreibt, ein Unverschämter ist, und dass Sie alles dies besser wissen, als man es Ihnen sagen kann. Ich bitte Sie um Verzeihung für meine Kühnheit. Doch zählen Sie auf das, was meine Freundschaft die Freiheit nimmt, Ihnen zu sagen: Sie werden nicht glücklich sein und Sie werden sich von Ihren Gebrechen nicht erholen, bis sich Ihr großzügiges Herz nicht gänzlich selbst bezwungen haben wird.
Ich wünsche tausendfach [Gutes ]für Ihre Gesundheit und für Ihre Zufriedenheit für das neue Jahr, Ihnen versichernd, dass Ihnen niemand mehr zugetan ist und dass niemand mit mehr liebevoller Zuneigung ist,

Meine teuerste Schwester,
als Ihr getreuester Bruder und Diener

Friedrich.)