Perspectivia

([o. O. ][Avignon ]Den 14. Februar 1755

Ich habe das Vergnügen gehabt, mein liebster Bruder, eine von ihren teuren Nachrichten zu erhalten. Ihr Brief hat mich mehr erfreut als alle Vergnügungen des Karnevals diejenigen erfreuen können, die Geschmack daran finden. Ich habe den meinigen hinreichend betrübt verbracht, da ich äußerst unpässlich war. Es gab den ganzen Sonntag Maskenball. Er begann um 10 Uhr. Man sagt, es wäre vielmehr eine Versammlung von Toren gewesen, als ein Kostümball. Am Fastnachtsdienstag nahm der Wahnsinn zu. Man sah nur Maskierte in den Straßen, wunderlich verkleidet, die zum Klang des Tamburins tanzten. Die Anderen sangen, [wieder ]Andere schrien, und [noch ]Andere prügelten sich. Man hätte meinen können, dass es das Königreich des Momus wäre. Die Gesellschaft hier ist gegenwärtig recht gut. Es gibt einige liebenswürdige Damen, wie die alte Duchesse de Crillon, die eine Frau von Welt ist, bezaubernd in Gesellschaft. Ihre Tochter, Madame de Brancas ist voller Esprit. An Männern gibt es nur den Duc de Gadagne, den Abbé de Crillon, den Marquis de Mirabeau und die beiden Brüder Peruzzi, von denen der ältere Leutnant der Musketiere und immer in der Nähe der Person des Königs ist. Ich habe den Duc de Villars gesehen. Er ist ein Erzstutzer in seinen Umgangsformen, der aber Verstand und Kenntnisse hat. Es sind nicht so sehr die schlechten Sitten, sondern andere Gründe, aus welchen er geringgeschätzt wird. Die schlechten Sitten sind zu sehr in Mode, sie bedeuten nichts in diesem Jahrhundert. Aber man bezichtigt ihn, eine unüberwindliche Abneigung wider menschlichen Blutes zu haben, was ihn daran hindert, es vergossen zu sehen oder es selbst zu vergießen. Es scheint mir, dass Sie ein ebenso traurig sind wie ich. Wie glücklich wären wir, uns unsere Leiden anvertrauen zu können und uns einige Augenblicke zu sehen. Dies würde sie leichter machen. Wir sind gekommen, um hier die Ruhe zu suchen, ohne sie zu finden. Wir werden sie in Italien suchen, ohne sie zu erlangen. Wollte der Himmel, dass ich sie, mit Hilfe der Vernunft, in mir selbst finde. Denn es gibt keine andere in dieser Welt als die, die man in sich findet. Antworten Sie mir nicht auf diese Punkte Tausend freundschaftliche Grüße an Heinrich. Was macht die teure Amelie? Ich weiß nicht, ob sie tot oder lebendig ist. Lebt wohl, teurer Bruder, ich bin mit Herz und Seele die Ihrige.

Wilhelmine.)