Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

[… ]Trotz der Prachtenfaltungen der Dresdener Opern, mag ich keine Aufführungen, worin man nur traurige und niedergeschlagene Gesichter sieht, welche zu bekunden scheinen, dass der Prunk auf der Bühne auf Kosten ihres Hab und Gut geht; wohin die Leute nur gehen, um die Augen auf Kosten ihrer Mägen zu sättigen, und um zu vermeiden, die Schreie ihrer Kinder zu hören, die vor Hunger sterben. Welcher Unterschied zu der Oper in Berlin, wo ein jeder herbeiläuft, um seinen Fürsten und seinen Wohltäter zu sehen; wo man ihn mit Segenwünschen überhäuft, dass er nicht allein das Glück seines Volkes besorgt, sondern auch noch zu seinem Vergnügen beiträgt. Es gibt so manchen Herostratos in der Welt. Jener, der sich kein Ansehen aufgrund seiner Verdienste schaffen kann, nimmt als Ausweg solcherlei Winzigkeiten wie jene in Sachsen, um von sich reden zu machen. Ich füge hier die Abschrift eines Briefes von Monsieur Camillo Paderni bei, Antiquar des Königs von Neapel, den er an einen meiner Kavaliere geschrieben hat. Sie werden daraus, mein lieber Bruder, eine Einzelheit der Bibliothek von Herculaneum ersehen und von anderen Altertümern, die man seit einem Jahr gefunden hat. Bisher ist das, was man entzifferte nicht sehr interessant. Man muss hoffen, dass man Besseres in dem finden wird, was noch nicht entschlüsselt worden ist. Ich hatte die Ehre, Ihnen die Ursachen zu vermelden, welche uns abgehalten haben, nach Marseille zu gehen. Die Preise sind dort übermäßig hoch und übrigens gibt es dort nicht die geringste Gesellschaft, was den Markgrafen sehr gelangweilt hätte. Ich rechne damit, morgen mit dem Trinken der Wasser von Balaruc zu beginnen. Die Kur dauert nur drei Tage. Wir werden von Avignon in drei Wochen ganz und gar scheiden und werden Marseille sehen und alles das, was noch im Languedoc und in der Provence bemerkenswert ist. Die Anstrengung und die Reisen sind die beste Heilmethode für mich. Ich fühle mich von meinen Kopfschmerzen äußerst erleichtert, aber dafür sind die Krämpfe viel stärker und unablässig. Man hat hier große Angst vor Krieg. Was mich anbelangt, so glaube ich, dass man den Bösen spielen wird, und dass man sich anschließend wieder aussöhnt. Ich empfehle mich wiederum ihrem kostbaren Angedenken, und bin mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

Mein teuerster Bruder
Ihre sehr ergebene, gehorsame Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Avignon, den 28. Februar 1755.)