Perspectivia

(Avignon, den 30. März[ 1755]

Sie wissen, mein teurer Bruder, dass mein Herz niemals Anteil an meinem Schweigen hat. Somit liefere ich Ihnen keine Entschuldigung, so lange Zeit versäumt zu haben, Ihnen zu antworten. Ich hoffe, dass dieser Brief Sie viel fröhlicher vorfinden wird als Sie es waren, als Sie mir schrieben. Seien Sie überzeugt, dass niemand inniger Anteil nimmt an dem, was Sie betrifft als ich, die ich Ihnen mit Herz und Seele verbunden bin. Wir sind im Begriff, eine Reise zu machen, um die Sie uns beneiden werden. Wir reisen übermorgen nach Marseille, Toulon, Antibes und Nizza ab, wo wir uns nach Genua einschiffen werden. Ich bin begeistert, Avignon zu verlassen, welches der abscheulichste Ort der Welt ist; ebenso was die Luft betrifft, wie hinsichtlich der Lage. Ich vermisse lediglich eine kleine Gesellschaft, die ich mir dort zusammengebracht hatte. Man erweist uns die Ehre, uns zu versichern, dass man uns sehr vermissen wird. Zumindest schulde ich allen Leuten sehr viel Dankbarkeit, denn man brachte mir ebenso viele Aufmerksamkeiten entgegen, als wenn ich die Herrscherin wäre. Die Zwänge waren zu groß für mich, ich hatte keinen Moment, um Luft zu holen. Immer in Alarmbereitschaft, um Leute zu empfangen, und verpflichtet, eine Rolle zu spielen. Es gibt in Frankreich nur Paris. Man findet liebenswürdige Menschen hier, aber es ist in ihren Manieren immer etwas Bäurisches. Ihr Esprit und ihr höfliches Auftreten sind ganz verschieden. Das Land ist unsäglich. Man sieht nur Olivenbäume und Maulbeerbäume, die trübselig und unangenehm sind. Kein Wald, wenige Wiesen und mit Steinen bedeckte Felder. Die Rhône und die Durance halten die Bewohner von Avignon gefangen. Wir konnten weder San Rémo[ heute: Stadtteil von Châteaurenard], [noch ]Arles sehen, da wir diese beiden Flüsse nicht überqueren konnten, welche oft einen Mangel an Lebensmitteln verursachen. Das Land ist arm wie ganz Frankreich. Ich habe seit meiner Reise viele Vorurteile abgelegt. Unsere teure Heimat hat in meiner Vorstellung sehr an Wert gewonnen. Adieu, teurer Bruder, richten Sie Ihre Briefe nach Bayreuth, ich werde Ihnen so oft schreiben, wie ich es kann. Ihre Briefe sind nicht geöffnet. Ich bin ganz die Ihre

Wilhelmine.)