Perspectivia

(Den 22. November 1755

[… ]mein teuerster Bruder [… ]Wenn Ihre Geldbörse abgemagert ist, ist meine am Ende. Sie haben [Geld ]in Kleider, Festgelage etc. umgesetzt, und ich in Altertümer. Der Unterschied ist, dass Sie guten Kredit haben, während ich nichts zu hoffen habe. Die arme Amelie befindet sich in der gleichen Lage. Sie tut mir sehr leid An ihrer Stelle, würde ich mich in meine Abtei zurückziehen. Glaub mir, es ist viel angenehmer, wenn man sein eigener Herr ist, in Berlin wird sie diesen Vorteil nie haben. Wenn die Königin Mutter sterben würde, würde der König ihr [Amelie ]sicher die Apanage erhöhen. Aber bei all dem wird es ihr bei ihren Unternehmungen nie gut genug gehen, um etwas darzustellen. Wir haben gerade den armen Oberst Bonin verloren, ein unwiederbringlicher Verlust. Er war ein ehrenwerter Mann, der Talente und Fähigkeit mit Rechtschaffenheit verband. Ich weiß nicht, wer seine Stelle haben wird. Ich weiß nicht, wer seinen Platz einnehmen wird. Die Nachricht, die Sie mir vom Herzog von Nivernais Der Großneffe Kardinal Jules Mazarins (1602–1661), Louis-Jules Barbon Mancini-Mazarini, Herzog von Nivernais (1716–1798), Pair de France (dem frz. Hochadel angehörig), war von Januar bis März/Anfang April 1756 frz. Gesandter [«ministre plénipotentiaire»] am preußischen Hof. In diese Zeit fallen die abschließenden Verhandlungen zum Vertrag von Versailles vom 1. Mai 1756, der ein offensives und defensives Bündnis zwischen Frankreich und der österreichischen Monarchie einschließt. Das Bündnis wird als „Umkehrung der Allianzen“ («renversement des alliances») bezeichnet, das die grundlegende Neuordnung und Wende in der bis dato gültigen europäischen Außenpolitik vor Beginn des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) bis zur Französischen Revolution definiert. Das Abkommen tritt an die Stelle des seit dem Ende der Regierungszeit Ludwigs XIV. geltenden diplomatischen Systems, das die österreichische Monarchie und Großbritannien in einem Lager, Frankreich, Preußen und Bayern in dem anderen Lager verortete, und wird nun durch ein anglo-preußisches Bündnis gegen ein französisch-österreichisches Bündnis ersetzt. {Cfr.: #140 Dade, 2010: 137–142; grundlegend: #70 Externbrink, 2006, hier: 58 ff., 64, 158–171.} schicken, überrascht mich sehr. Meinen Informationen zufolge hat sich die Meinung über seinen Botschaftsdienst geändert. Er sollte nach Turin gehen. Sicher ist, dass er hier vorbeikommen wird, wenn er wieder nach Berlin geht. Melden Sie mir bitte, was Sie von der Gemäldegalerie in Sanssouci denken. Unter uns sei gesagt, dass der König grauenhaft betrogen wurde. Er hat kein französisches noch italienisches Original, es gibt nicht eines in der Galerie in Berlin. Ich habe ihn auf zwei Maler in Rom hingewiesen, von denen man den einen Raffael gleich schätzt, er heißt Mengs. Er ist ebenso stark, was den Entwurf und die Anordnung anbelangt, und übertrifft ihn in der Farbgebung. Der andere ist Batoni, der weit über Carlo Maratta hinausgeht, aber in seinem Stil malt. Ich wollte Ihnen als Aufmerksamkeit ein Gemälde[ zum Geschenk machen]. Aber diese Herren haben teuflisch gepfefferte[ Preise]. Die Sammlung von Statuen und Büsten, die ich zusammengebracht habe, ist prachtvoll, und ich habe eigentlich nur den Marmor gezahlt. Ich habe 69 große und kleine Stücke, unter denen es einige erstklassige gibt. Ich erwarte die Packen mit Ungeduld. Mit 10000 Talern hätte ich dem König Stücke von unschätzbarem Wert überlassen können, wenn er mir diese Summe hätte anvertrauen wollen. Leben Sie wohl, teurer Bruder, ich beende dieses lange Geschwätz, indem ich Ihnen die Empfindungen meines Herzens wiederhole, das Ihnen ganz gewidmet ist.

Wilhelmine.)