Perspectivia

(Potsdam, den 25. November 1747

Meine teuerste Schwester.
[… ]Der Tisch, den Ihr die Güte habt mir zu schicken, ist noch nicht angekommen. Ich hätte Ihnen natürlich gedankt. Wahrscheinlich verzögern die schlechten Wege[ seine Ankunft]. Hier ersteht man von den Toten auf. So wie Madame de Montbail, die von einem bösartigen Fieber durch die Kraft ihrer Veranlagung gesundet ohne Heilmittel genommen zu haben. Ihre Jungfräulichkeit wird das Paradies ganz muffig erreichen. Ich danke Ihnen vielmals, dass Sie die Güte gehabt haben, mir den Plan von Herculaneum zuzuschicken. Ich sehe wohl, dass unsere Einbildungskraft uns immer über die Wahrheit hinausträgt. Ich hatte mir diese Stadt sehr viel größer und schöner vorgestellt, und ich glaube, dass die Bilder, die man dort gefunden hat, nichts Besonderes sind. Wir leben immer in der Vergangenheit oder in der Zukunft, und unser Geist vermag nicht, die Gegenwart zu genießen. Der Name der Römer berauscht uns und macht uns ehrfürchtig. Wir reden uns ein, dass das zukünftige Geschlecht glücklicher sein wird als das gegenwärtige. Ich mag lieber den natürlichen und bürgerlichen gesunden Menschenverstand, der glaubt, dass der Herr Pfarrer seiner Gemeinde beredter ist als Cicero, dass seine Frau mehr Liebreiz hat als die schöne Helena, dass seine Stadt schöner ist als Paris, und dass die Gemüse, die seine Köchin ihm zubereitet, einen feineren Geschmack haben als alle ausgesuchten Leckerbissen Martials Martial greift in seinen Epigrammen über das Alltagsleben der Römer des Öfteren auf satirische Art die Genusssucht der römischen Bürger auf. {Vgl.: #264 Martial, 1823: Buch II, 40 [Tongilium], wo ein gewisser Tongilius eine Krankheit vortäuscht, um sich die feinsten Leckerbissen bringen zu lassen. Das Epigramm schließt mit dem Vers „o stulti, febrem creditis esse? Gula est.“} [CW/Möw] und des Herzogs von Nevers. Sollten Sie mich in diesem Brief zu ernst finden, so rechne ich damit im nächsten heiterer zu sein. Der kleine Tomasin wird kommen und er wird alle Geister auf einen Komödienton erheben.
Ich bin mit viel liebevoller Zuneigung und Wertschätzung,

meine teuerste Schwester,
Ihr treuester Bruder und Diener

Friedrich.)