Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Ich bin endlich in Lyon, nachdem ich eine, für eine arme gebrechliche Frau wie mich, unbeschreibliche Anstrengung ausgestanden habe. Ich bin hier erfreut worden, mein lieber Bruder, mit Ihrem teuren Brief, welcher meine Kräfte wiederbelebt hat, aufgrund des Vergnügens, das er mir verursacht hat, nachdem ich drei Wochen lang Ihrer teuren Nachrichten beraubt gewesen bin. Ich habe den Frieden in Stuttgart wiederhergestellt gefunden. Das Fräulein, welches den Krieg verursacht hatte, ist fortgeschickt worden. Man sagte, sie sei schwanger, nichtsdestotrotz hat ihre Hässlichkeit schließlich den Appetit auf sie vergehen lassen. Von Stuttgart bin ich nach Durlach gereist, wo man uns mit Höflichkeit überhäuft hat. Der Markgraf ist liebenswürdig, gediegen, aber nicht glänzend; Die Markgräfin ist mehr hässlich als hübsch und doch bezaubernd, sie gewinnt ebenso viel durch ihre Manieren, wie sie durch ihre Schönheit würde gewinnen können, wenn sie welche besäße. Man wollte uns in Straßburg alle Ehren erweisen, aber wir haben sie zurückgewiesen. {Grundlegend zu den Reisebegegnungen Wilhelmines, cfr.: #109 Neuhaus, 2002: 347–378, und #293 Neuhaus, 2009: 135–149.} Ich habe dort nur den Generalleutnant Marquis de Vibraye liebenswert gefunden. Ein Graf Salm, Bischof von Tournay, hat uns sehr amüsiert; er ist wie der Dottore Baloardo Der «Dottore Baloardo» (auch: Dottore Graziano, Dottor Balanzone oder einfach: Il Dottore) ist eine Bologneser Maske aus der «Commedia dell´Arte» (16./17. Jh.). Gemeinsam mit dem „Pantalone“ bildet er das komische Paar der „Alten“. {Cfr.: #194 Brief vom 13. August 1755.} Der Dottore ist die Parodie eines Gelehrten, der sich dadurch auszeichnet, dass er unaufhörlich lateinische Phrasen drischt, von denen er in der Regel jedoch selbst so gut wie nichts versteht. {Cfr.: #44 Rudlin, 1994.} {Cfr.: #45 Duchartre, 1924.}, der alles weiß und nichts versteht. Er hat uns das absonderlichste Konzert der Welt gegeben: Es bestand aus zwei Bauernfiedlern, welche die Ohren schindeten, der Herr Bischof sang italienische Arien, die ich die Ehre hatte, zu begleiten – es gab nichts Komischeres. Es ist übrigens unmöglich, mehr Höflichkeit und Aufmerksamkeit zu begegnen, als man überall für uns hat. Von Straßburg sind wir nach Colmar gefahren. Wir sind dort vom Intendanten Titel während des Ancien Régime: Verwalter, Statthalter. Der Intendant, ein Verwaltungsbeamter, diente als Vertreter des Königs in jeder der Provinzen (auch: «généralités»). Von etwa 1640 bis 1789 waren die Intendanten («intendants»), vor allem unter dem französischen Finanzminister Jean-Baptiste Colbert (1619–1683), das Hauptinstrument für die administrative Vereinheitlichung und Zentralisierung unter der französischen Monarchie. {Zu Colberts Verwaltungsverfahren, siehe auch: #55 Hirschi, 2014: 259–89.}, vom Kommandanten und von allen Offizieren begrüßt worden. Man sagt mir, dass Voltaire da wäre, dass er seit 6 Monaten kaum das Bett verließe, und dass er sein Haus nicht verlassen würde. Als sich diese Leute zurückgezogen hatten, war ich äußerst überrascht, den Genannten ankommen zu sehen. Ich gestehe Ihnen, dass ich betroffen war, so sehr fand ich ihn verändert, er stützte sich auf 2 Diener, welche ihn die Treppen hinunter geschleppt hatten. Er weinte als er mich sah und klagte mir sein Leid. Er sagt, dass er Sie anbetet, dass er Unrecht gehabt hat, dass er seine Fehler einsieht, dass er der unglücklichste Mensch der Welt ist. Sein Zustand, seine Reden und seine Verfassung ließen mich Mitleid mit ihm haben. Ich habe ihm einige Vorwürfe wegen seines Betragens gemacht, aber ich hatte nicht den Mut, ihn weiter zu drängen und zu betrüben, als er es bereits ist. Sein Geist ist immer noch derselbe. Er arbeitet an seiner Universalgeschichte. Durch viel Suchen hat er mehrere Stücke wiedergefunden, die er verloren hatte. Er kam am nächsten Tag mit Madame Denis, kurz vor meiner Abreise. Sie ist eine dicke Frau, die Frau von Hacke ähnelt. Sie hat sich auch in die Schriftstellerei gestürzt, aber nach dem, was sie mir sagte, will sie nichts drucken lassen. Ich bin überall wo ich hingehe ein ebenso außergewöhnliches Lebewesen, wie das Nashorn. Ich war mehrere Male nahe daran, vor lauter Neugierde, die Schwester des Königs von Preußen zu sehen, zerrissen zu werden. Man mietet Fenster, um mich aus der Kutsche heraussteigen zu sehen und man schreit mir zu: „Wir lieben den König von Preußen und alles, was ihm angehört.“ Ich könnte Ihnen, mein teurer Bruder, die Liebe nicht erzählen, die die Nation für Sie hat, sie geht bis zur Anbetung. Und ich fühle wohl, dass ich einzig Ihnen zu Dank verpflichtet bin, für die Ehrungen und die Zuvorkommenheit, die man hier für mich hat. Aber diese Eigenschaft als Schwester, welche mir so teuer ist, ist mir hier nicht vorteilhaft. Die Schwester ist so viel niederer als Bruder, dass sie vielleicht unwürdig erscheinen wird, ihm anzugehören, wenn man sie kennt.
Wir haben uns einen Tag in Dijon aufgehalten. Ich habe dort eine antike Kapelle gesehen, über deren Ursprung, so glaube ich, man nicht mehr all zu viel weiß. Man will dieses Bauwerk als heidnisch ausgeben. Das könnte sein, aber es ist sicher nicht römisch. Es gibt drei Säulenordnungen (wenn man sie so nennen kann): Die Säulen der ersten Etage sind aus Jaspis, aber sind nicht proportioniert, sie haben ungestalte Kapitäle, die überhaupt keine Ordnung aufweisen. Die zweiten und 3. sind aus Porphyr. Diese drei Säulenreihen tragen eine Kuppel. Da ich erst seit gestern hier bin, bin ich noch nicht ausgegangen und habe niemanden gesehen, denn ich hatte großen Bedarf, mich auszuruhen. Ich rechne damit, in einigen Tagen die halb zerfallenen Aquädukte zu besichtigen, welche hier in der Nähe sind. Wir werden hier 8 Tage verweilen. Ich bin ein paar Male nahe daran gewesen, schlapp zu machen, aber die Übungen haben mich immer wieder hergestellt. Ich glaube, dass das Reisen mich besser wieder gesundmachen wird, als es die Luft von Montpellier vermögen wird. Meine Krämpfe nehmen nicht ab, aber ich bin frei von Kopfschmerzen, was für mich eine große Sache ist. Ich werde die Ehre haben, Ihnen mit der nächsten Post die Erzählung von dem zu liefern, was hier geschehen wird, und Ihnen die Neuigkeiten des Tages zu vermelden. Ich beende diesen Brief mit Bedauern, aber die Post ist bereit, abzufahren – wenn ich ihr doch nur folgen könnte. An welchem Ort ich auch sein mag, ich bin da ohne mein Herz, das Sie niemals verlässt, und verbleibe mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

Mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste und gehorsamste Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Lyon, den 31. Oktober 1754.)