Perspectivia

(Meine teuerste Schwester
Ich habe die Freude gehabt, heute zwei Ihrer teuren Briefe zu empfangen. Einer datiert aus San Remo und der andere aus Genua. Es wundert mich nicht, dass Sie die Kirchen jener Stadt prachtvoll gefunden haben, vor allem die „Annunziata“ Wilhelmine erwähnt in ihrem {#151 Brief v. 19.04.1755} aus Genua keine der Santissima Annunziata geweihte Kirche. Nur aus ihrem Reisetagebuch geht hervor, dass sie die Basilika della Santissima Annunziata del Vastato besucht hat {#60 Tagebuch, 2002: 39}, wo sie eine Darstellung des Abendmahls innen über dem Portal sah. Ob Friedrich diese von Giovanni Carlone und seinem Bruder Giovanni Battista mit Deckenfresken geschmückte Kirche meinte, oder Santa Maria Assunta di Carignano lässt sich nicht eindeutig klären. , die innen reichlich geschmückt ist. Genua ist unter allen Städten Italiens die, in der die Frauen die besten Manieren haben. Aber Sie werden dasselbe weder in Florenz noch in Rom vorfinden. Ich hoffe sehr, meine teure Schwester, dass Sie, gemäß dem Brauch des Landes, in dem Sie sind, darauf bedacht sein werden, sich mit einem „Cicisbeo“ Ein „Cicisbeo“, „eine italiänische Benennung und Einrichtung“, ist ein Kavalier und galanter Höfling, „welchen eine Dame dazu ausersehen hat, um sich seiner Dienstleistungen bey unterschiedenen Vorfällen zu bedienen, sie z. E. auf Spaziergänge, in den Wagen, in die Kirche etc. zu begleiten, sie zu unterhalten, und wider das Unangenehme der langen Weile zu schützen. Ein Cicisbeo ist ein freyer dienstwilliger Gesellschafter, der sich in seinem Rang und Geschäften sehr weit von allen Arten der gedungenen Bedienten unterscheidet. Er scheint bey nahe nothwendig zu seyn in einem wohleingerichteten Staat, wo es allerdings der Wohlstand mit sich führt, daß eine Dame dergleichen dienstfertigen Gesellschafter allezeit zu ihrer Seite habe. Dieses ist wenigstens der Begriff, den alle Italiäner mit diesem Zustand verbinden, und den sie Andern davon bey zu bringen suchen“. {Zitiert nach: #84 Krünitz, 1776, Bd. 8: 123-126.} {Siehe auch: #184 Brief vom 25. Juli 1755 und #194 Brief vom 13. August 1755.} Ein „Cicisbeo“ hat ohne Anmeldung Zugang zu den privaten Gemächern der Dame. Eine sexuelle Dimension ist in der Grundidee des Cicisbeats nicht vorgesehen. [CW/FW/reh] zu versehen. Und ich bitte Sie, mir anzuvertrauen, wer jene sind, welche diese Stelle an Ihrem Kutschenschlag bekleiden werden. Sie werden gewiss von Venedig nach Livorno über das Meer reisen. Aber ich bitte Sie inständig, nicht auf der Feluke Zweimastiges Küstensegelschiff. von Rom nach Neapel zu fahren, aufgrund der Barbaresken-Piraten {Barbaresken-Korsaren, Kaperfahrer, die von der nordafrikanischen Küste aus im Mittelmeer agierten. Historische Bezeichnung für die arabisch-berberische Staatengebilde Nordafrikas unter osmanischer Oberhoheit vom 16. bis zum 19. Jh. Zum historischen Kontext, vertiefend: #181 Ressel, 2012.} {Siehe auch: #174 Brief vom 28. Juni 1755.} {Wie real die Gefahr war, berichtet ein Korrespondent unter dem Datum „29. May“ in den #225 Münchner-Zeitungen, 1755, Nr. 85, 339: „Livorno. Die Toscanischen Küsten sind seit ohngefähr 8. Tagen von denen Algierischen Schiffen gleichsam wie eingeschlossen.“}, welche diese Küsten heimsuchen, und welche Sie, wenn nicht entführen, wenigstens attackieren könnten.
Ich kann Ihnen keine interessanteren Neuigkeiten von hier berichten als die Verlobung meines Bruders Ferdinand mit der Tochter meiner Schwedter Schwester; es ist eine Ehe auf jüdische Art, die in der Familie bleibt. Ich fange an, mich ein klein wenig von meiner Gicht zu erholen, aber ich bin immer noch in der Lage, wie in der Komödie des «Roman comique» zu sagen: „Monsieur, lassen Sie uns gehen hinein, ich bin nicht sicher auf meinen Füssen.“ In Paul Scarrons (1610–1660) Hauptwerk «Le Roman comique» erzählt der französische Schriftsteller Burlesquen um eine Schauspielertruppe in Le Mans. In der «L'Histoire de la Caverne» (2. Bd., 3. Kapitel) entwickelt er folgende Szene: Bei einer Aufführung sagte ein sehr alter Page, der sich seinen Text nur schwer merken konnte, zu seinem Herren statt des Reimes «Monsieur, rentrons dedans, je crains que vous tombiez; Vous n'êtes pas trop bien assuré sur vos pieds.» / «Monsieur, rentrons dedans, je crains que vous tombiez, Vous n'êtes pas trop bien assuré sur vos jambes.» Daraufhin brechen sowohl die Schauspieler als auch die Zuschauer in ein unbändiges Gelächter aus. {Cfr.: #178 [Scarron], 1697, hier: Kap. 3, 250–266, Zitat: 257.} Seine britannische Majestät hat gerade sein schmutziges Land mit seiner Anwesenheit beehrt, und da ich dieses Jahr nach Kleve fahre und durch Braunschweig komme, werde ich die Ehre haben, seine Residenz zu streifen. Wir sind gerade befasst mit unseren militärischen Beschäftigungen, mit denen ich wie ein armer Gichtkranker zurechtkomme. Ich wünsche Ihnen indessen eine glückliche Reise, und ich wünsche Ihnen alles Gute, damit sich die Bewegung zum Vorteil für Ihre Gesundheit auswirkt, wie Sie es erhoffen. Ich bitte Sie, von der vollkommenen Zuneigung überzeugt zu sein, mit welcher ich bin,

meine teuerste Schwester,
Ihr getreuester Bruder und Diener

Friedrich.)