Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

[…] Ich habe gestern einen jungen einheimischen Edelmann gesehen, einen sehr hübschen Jungen, der gerade von seinen Reisen zurückgekehrt ist. Er hat mir von einem besonderen Phänomen erzählt, welches er in Neapel gesehen hat. Der Fürst San Severino hat sich stark den Wissenschaften, und vor allem der Physik und der Chemie, gewidmet. Als er einige Versuche mit Phosphor machen wollte, fing die Masse, die er zusammengesetzt hatte, Feuer. Der Zufall wollte es, dass sie beinahe die Gestalt einer Wachskerze angenommen hatte. Jene Masse brannte während eines ganzen Monats, ohne dass etwas sie hätte löschen können. Nach mehreren Versuchen erlosch sie, da sie sich stark geneigt hatte. Er wog sie, sobald sie sich entzündet hatte, und es stellte sich heraus, dass sie, nachdem er sie ein zweites Mal gewogen hatte, nichts von ihrem Gewicht verloren hatte. Aber es gab kein Mittel, sie wieder anzuzünden. Er bewahrt noch ein Stück von dieser Masse auf, das er dazu bestimmt, einen Christus in einer Kapelle zu beleuchten, die ihm gehört. Trotz aller seiner Sorgfalt, hat er diese Zusammensetzung nicht nachmachen können, welche, wie er sagt, aus gewöhnlichem Phosphor besteht, gemischt mit der Hauptsubstanz des menschlichen Schädels und Blutes. Überdies hat er mir ein ebensolches Bildnis von den Neapolitanern entworfen, wie dasjenige, das ich die Ehre gehabt habe, Ihnen zu schicken. Sie sind den Fremden gegenüber äußerst höflich und zuvorkommend, aber ihre Höflichkeiten sind schäbig und ohne edle Gesinnung. Keinerlei Gesprächskultur, da sie nur spielen und zum Schauspiel gehen. Der König ist derartig scheußlich, dass er mit seiner Hässlichkeit beeindruckt. Sein bevorzugtes Vergnügen ist es, auf die Jagd nach Schildkröten zu gehen und mit den Altertümern aus Herculaneum und dem Porzellan aus Dresden wie ein Kind herum zu tändeln, welche er alle Tage unterschiedlich aufstellt, aber ohne Ordnung oder Geschmack.
Wenn ich lüge, dann lüge ich anderen nach. Die Post ist bereit loszufahren. Ich bitte Sie tausendfach um Verzeihung für mein Gekrakel, mein liebster Bruder, aber ich habe nicht die Zeit, meinen Brief ins Reine zu schreiben und ich bin mit aller erdenklichen Hochachtung und liebevollen Zuneigung,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste, gehorsame Schwester und Dienerin
Wilhelmine

[o. O. ][Bayreuth][? ]Den 6. April 1754.)