Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

[… ]| [… ]Wir hatten hier, diese vergangenen Tage, den neapolitanischen Gesandten aus Dresden gehabt, der für mich sehr unterhaltsam war. Er hat mir den Plan Vermutlich handelt es sich um die Kopie eines Planes von Herculaneum: Der französische Ingenieur, Pierre Bardet de Villeneuve (um 1680–?), ein früherer Oberstleutnant in der französischen Armee und Militärschriftsteller, war von 1741 bis 1745 im Auftrag Karls VII.  (1716–1788, von 1735 bis 1759 regierend als Karl VII., König von Neapel und beider Sizilien; seit 1759 Karl III., König von Spanien) Ausgrabungsleiter von Herculaneum. Er fertigte zahlreiche Pläne, Grundrisse und Zeichnungen an, die trotz der über die Ausgrabungen verhängten „Nachrichtensperre“ vervielfältigt wurden. Der hier benannte Stadtplan zeigte womöglich das Theater sowie die sog. Basilika zusammen mit gegenüberliegenden Gebäuden. {Cfr.: #308 Allroggen-Bedel, 1983: 139–157, hier: 139.} {Zur sog. Basilika: #454 Najbjerg, 2002: 122-165 mit weiterführender Bibliografie.} der vor kurzem entdeckten Stadt Herculaneum gegeben, den ich mir hier beizufügen erlaube. Man fand dort zwei sehr gut erhaltene Weinflaschen und eine Menge halb verfaulte, halb frische Gerste; Enden von Goldborten, ohne Seide gewoben, die sich dehnen, wenn man sie auseinanderzieht und ihre Form wieder annehmen, wenn man sie los lässt; eine Anzahl Statuen, die beinahe alle verstümmelt sind; Freskenmalereien, die nur aus drei Farben bestehen; und zwei vollständige Mosaikfußböden. Ein Prinz d’Elboeuf, der sich in Neapel niedergelassen hat, gab Anlass zu dieser schönen Entdeckung. Er war spazieren gegangen. Ermüdet von dem vielen Laufen, legte er sich in einem kleinen Weiler auf den Boden, um seinen Bediensteten Zeit zu geben, ihm ein Pferd herbei zu führen. Die Bauern dieses Weilers waren damit beschäftigt, einen Brunnenschacht zu graben. Die Geschichte der ersten Entdeckungen weist in verschiedenen Quellen erhebliche Unterschiede auf, von denen einige den Brunnen in der Kirche San Giacomo Apostoli in Resina identifizierten und andere den Brunnenschacht auf dem Grund und Boden der Familie Nocerini verorteten. {Zur komplexen Entdeckungsgeschichte Herculaneums (in Auswahl): #457 Fiorelli, 1860-1864; #20 Ercolano 1738-1988, 1993; #162 Parslow, 1995; #432 Verschüttet vom Vesuv, 2005; #272 Gordon, 2007: 37–39 f.; #159 Wallace-Hadrill, 2012; #455 Ercolano e Pompei, 2018.} Dem Prinzen fiel auf, dass sich in dem Erdreich, das sie umgegraben hatten, bearbeitete Steine befanden. Er glaubte, dass es einige verschüttete Altertümer an diesem Ort geben müsse, und er verhandelte mit diesen Kerlen, um den Schacht und das ihn umgebende Gebiet zu kaufen. Kaum hatte er zwei Tage dort arbeiten lassen, da entdeckte man das Amphitheater. Es wird behauptet, dass man noch viel großartigere Raritäten in der Stadt Pompeji finden wird, die dort ganz in der Nähe ist. Ich weiß nicht, mein teuerster Bruder, ob Sie den Marmortisch empfangen haben, den ich mir die Freiheit nahm, Ihnen zu schicken. Ich bin überzeugt davon, dass er wohlbehalten angekommen sein wird. Ich empfehle mich wiederum Ihrer kostbaren Erinnerung und bin mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste und gehorsamste Schwester und Dienerin
Wilhelmine

[o. O. ]Den 18. November 1747.)