Perspectivia

(Rom, den 26. Juni 1755

Es ist mir unmöglich gewesen, mein teurer Bruder, Ihnen zu schreiben. Die kurzen Aufenthalte, die wir an den Orten einlegen, wo wir anhalten, zwingen uns, die Zeit auszunutzen. Sie kennen meine Empfindungen, es ist nutzlos, sie Ihnen zu wiederholen. Daher werde ich Sie mit meiner Reise unterhalten, welche Ihre Neugierde so stark erregt. Ich sage Ihnen also, dass ich sehr bereue, sie gemacht zu haben. Meine Augen sind so verwöhnt von allem, was ich in Italien sehe, dass ich alles, was ich andernorts sehen werde, eine schlechte Kopie oder kaum von Belang finden werde. Rom und Florenz übertreffen alle Vorstellungen, die Sie sich davon machen können. Die Gemäldegalerie von Florenz ist besser als all jene zusammengenommen, die ich hier gesehen habe. Dafür aber übertreffen die Altertümer, die Gemälde in den Kirchen, die Baukunst hier alles, was man sich ausmalen kann. Ich habe einen richtigen Geographiekurs des antiken Roms gemacht; ich bin an allen Orten gewesen, wo die denkwürdigen Ereignisse geschehen sind, und sah alle Trümmer seiner vergangenen Größe. Das hat mich unendliche Strapazen und Mühen gekostet. Bald haben wir die Himmelsgewölbe erklommen und bald sind wir bis zum Mittelpunkt der Erde hinabgestiegen. Es gibt nur einige Engländer, welche [bisher ]diese Reisen gemacht haben. Ich bin übrigens in Neapel wie ein Hund behandelt worden. Dieser Hof ist viel unzivilisierter als jener des großen Khans. Der Papst und die Regierung begegnen mir mit unendlichen Höflichkeiten und Aufmerksamkeiten. Die übrigen Fürsten und der Adel, ausgenommen das Haus Corsini Laut den „Münchner Zeitungen“ bemühten sich besonders Fürst Filippo Maria II. Corsini, Prinz von Sismano, 1706–1767) und der Kardinal Corsini (Neri Maria Corsini, 1685–1770) dem Markgrafenpaar den Aufenthalt in Rom angenehm zu machen. {Cfr.: #225 Münchner-Zeitungen, 1755: 377.} Die Söhne des Prinzen, Bartolomeo III. (1729–1792) und Lorenzo (1730–1802), waren auf ihrer Reise nach Deutschland dort sehr aufmerksam aufgenommen worden. Diese Reise hat zwischen 1752 und 1755 stattgefunden. Sie führte die Prinzen zusammen mit ihrem Erzieher Gaetano Pecci u.a. nach Wien, 1753 über Dresden, wo sie am 5. März an einem Fest anlässlich des Namenstages des Königs von Polen (Friedrich August II., Kurfürst von Sachsen und in Personalunion August III., König von Polen, 1696–1763) teilnahmen, nach Berlin, wo sie 19 Tage verbrachten, am 7. April auch nach Potsdam. Dort stellten sie sich dem König vor und hielten sich insgesamt 24 Tage in Potsdam auf. {Zitiert nach: #226 Seidel, 2014: 24.} Es könnte sein, dass Wilhelmine die Prinzen bei dieser Gelegenheit bereits kennengelernt hatte, denn sie besuchte am 13. April ebenfalls Potsdam.{Zur Grand Tour der Gebrüder Corsini vgl. auch: #284 Boutier, 1994, Bd. 1: 259, 272, 275ff., 282 und #233 Toniolo, 2013.}, haben mir alle erdenklichen Unverschämtheiten angetan, ohne dass der Papst dem hätte abhelfen können. Ich reise von hier am 2. Juli [1755 ]ab; dies wird nicht ohne sehr viel Bedauern geschehen. Ich habe mehrere Kardinäle gesehen, die zu mir gekommen sind. Der Kardinal Valenti hat sich nicht damit zufriedengegeben, bei jeder Gelegenheit meinen Wünschen zuvorzukommen, er hat [auch ]ein bezauberndes Fest gegeben, bei dem sein Neffe die Honneurs machte. Es gab einen prächtigen Imbiss, serviert auf einer Konfidenztafel Eine Konfidenztafel ist eine versenkbare Tafel, die in einem unter dem Speisezimmer befindlichen Zimmer hergerichtet wird und dann mechanisch empor geholt werden konnte. Dadurch konnte man ohne die Störung durch Bedienstete speisen. Das Zimmer ist der Raum, in dem die Tafel steht. Friedrich II. besaß ebenfalls solche Konfindenztafeln, darunter eine im Potsdamer Stadtschloss. {Dazu:#224 Graf, 2014: <17> <19> <32>.} {Zur Nutzung durch die Hohenzollern, cfr.:#227 Hagemann, 2009: <13> <25>.}, und am Ende beschenkte man mich mit drei Mosaikbildern. Ich hätte ihn gern gesehen. Man sagt von ihm, er sei der liebenswürdigste Mensch der Welt. Aber er ist dem Tode nahe. Ich schließe, wobei ich nur diese Zeit habe, Ihnen zu versichern, dass ich ganz die Ihre bin.

Wilhelmine

[postscriptum]
Tausend herzliche Grüße an Heinrich. Zeigen Sie ihm, ich bitte Sie, meinen Brief, denn ich kann ihm nicht schreiben. Ich habe eine schöne Sammlung von Statuen erworben. Man bekommt diese Dinge hier für nichts.)