Perspectivia

Mein teuerster Bruder

Ich habe meinen Geographieunterricht von Rom beendet. Ich habe alle Orte gesehen, an denen die denkwürdigsten Dinge geschehen sind, und die erstaunlichen Trümmer der alten römischen Größe. Man sieht noch immer die ganze innere Disposition des Palastes des Caracalla. Ich habe einen kleinen Grundriss davon direkt vor Ort gemacht. Dieser Palast, der einer von den weniger großen ist, ist riesig. Er muss sechsmal so groß gewesen sein wie das Berliner Schloss. Es ist noch eine Außenmauer vom Grab der Familie Livia übriggeblieben. Ich habe die Inschriften gesehen, die man dort gefunden hat. Die Urnen von Augustus, von Caesar und von Livia sind dort noch immer begraben. Man hat schon mehrfach versucht sie auszugraben, aber man fand es zu kostspielig. Zur Abwechslung war ich gestern auf der Beerdigung des Kardinals Marcello. Möglicherweise verwechselte Wilhelmine den Namen des Kardinals Gioacchino Besozzi mit der Kirche San Marcello im II. römischen Stadtteil Trevi an der Piazza di San Marcello. Der Kardinal war am 18. Juni 1755 in Tivoli gestorben und wurde nach der Überführung und einer Trauerzeremonie in S. Marcello al Corso am 28. Juni 1755 in der Kirche St. Croce in Gerusalemme, Rom beigesetzt. Die Gazette (Paris) berichtet in ihrer Ausgabe vom 12. Juli 1755 unter dem Datum „De Rome, le 21 Juin 1755.“ vom Tod des erkrankten Kardinals Bezozzi am 18. Juni 1755 in Tivoli und in der Ausgabe vom 19. Juli 1755 unter dem Datum „De Rome, le 28 Juin 1755.“ von den Exequienin S. Marcello al Corso. {Cfr.: #215 Gazette (Paris), Nr. 28, 12. Juli 1755: 333.} (Auch in London wird darüber berichtet, cfr.: #218 London Gazette, 1755, Nr. 9495, 19. July to 22. July 1755: 1.} {Zur Biografie Kardinal Besozzis siehe: #217 Cardella, 1797, Bd. 9: 21–23, und cfr.: #186 Seidler/Weber, 2007: 322 f.}{Zu Skulpturen an röm. Kardinalsgräbern: #219 Ruggero, 2003–2004, hier: Bd. 2, 354–356.} Alle Kardinäle und religiösen Orden wohnten ihr bei. Ich habe nichts Außerordentliches an der Ausschmückung der Kirche gefunden, wo es kein Katafalk gab. Die Gärten sind hier von entzückendem Geschmack. Alles, was sich dem Blick darbietet, ist malerisch und in ursprünglichem Geschmack. Die Paläste sind im Inneren von großer Schönheit. Ich finde, dass man den Italienern Unrecht getan hat, wenn man sie so einschätzt, dass sie bei ihren Gemächern wenig Geschmack zeigen. Sie scheinen mir vornehmer in ihren Dispositionen und Dekorationen zu sein als jene der Franzosen. Die Galleria Colonna ist das Schönste, was man sehen kann. Ich fürchte, Sie zu langweilen, mein teuerster Bruder, mit einem zu ausführlichen Detail. Ich empfehle mich wiederum Ihrer kostbaren Erinnerung und bin mit aller erdenklichen Hochachtung und Zuneigung,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste und gehorsamste Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Rom, den 23. Juni 1755.)