Perspectivia

(Mein teuerster Bruder

Trotz all meiner Bereitwilligkeit, ist es mir unmöglich gewesen, Ihnen seit meiner Rückkehr hierher zu schreiben. Ich bin derartig erschöpft und ermattet von meiner Reise, von den großen Hitzewellen, die hier beginnen, und den Besichtigungen der Altertümer, dass ich beinahe auf dem Zahnfleisch krieche. Jedoch muss ich Sie in Kenntnis setzen, mein teurer Bruder, von einem wundersamen, außerordentlichen, seltsamen Abenteuer, welches Sie nicht erwartet hätten. Und zwar werden Sie eine Heilige in Ihrer Familie haben, und diese Heilige bin ich. Ich bin Märtyrerin unserer heiligen Religion. Der Stützpfeiler des wahren Glaubens wollte das Knie nicht vor dem Antichristen beugen. Die römischen Damen haben einen Schrecken bekommen und wollten eine Helfershelferin von Satan, so wie ich eine bin, weder sehen noch [mit ihr ]verkehren. Man hält die allerschimpflichsten Reden auf meine Kosten, man verbreitet Verleumdungen, mit einem Wort: ich bin derartig verachtet, dass ich ganz sicherlich einen großartigen Platz im Paradies haben werde. Der Papst veranlasst unter der Hand, was er kann, um alle zur Vernunft zu bringen. Er versucht somit, wie der Kardinal Valenti, sich mir bei jeder Gelegenheit gefällig zu erweisen. Letzterer ist der Vertraute unserer Liebschaften, denn es vergeht kein Tag, ohne dass wir uns durch ihn Komplimente ausrichteten. Soweit mein Bekenntnis. Wenn ich Seine Heiligkeit hätte sehen können, hätte ich vielleicht meinen Cicisbeo {Siehe: #159 Brief vom 11. Mai 1755.} {Siehe: #184 Brief v. 25. Juli 1755 und: #194 Brief v. 13. Aug. 1755.} aus ihm machen können, denn ich gestehe Ihnen, dass ich ein wenig das Fabelhafte liebe. Ich sehe niemanden mehr, worüber ich sehr zufrieden bin, da die Besuche mich vollends töten, denn ich versichere Ihnen, dass ich der Erschöpfung kaum Widerstand leisten kann, und dass es nur die Leidenschaft ist, alles zu sehen, die mich aufrechterhält.
Ich bin nahezu alle Tage in der Stadt unterwegs, um die Lage des antiken Roms zu studieren. Man muss auf Berge und verfallene Gebäude klettern, und manchmal bis tief unter die Erde hinabsteigen. Ich habe gerade eine Anschaffung gemacht, die mir unendliches Vergnügen bereitete. Es ist, dem Urteil aller Kenner nach [eine ]der allerschönsten antiken Malereien. Sie ist aus der Stadt Pompeji gestohlen und hierher gebracht worden. Das Gemälde, sowie ein weiteres, werden in verschiedenen Quellen erwähnt. La Condamine, der ebenfalls eines erworben hatte, schrieb in seinem Brief vom 17.02.1756 an Anne-Claude-Philippe de Tubières, Comte de Caylus, die Markgräfin habe unter der Leitung von Anton Mengs und Beratung von Ridolfino Venuti zwei Gemälde sehr teuer für sechzig Sequinen gekauft, nachdem ihr Stallmeister Herr von Gleichen zwei erworben hatte. Er legte Caylus seine inzwischen gewachsenen Zweifel an der Echtheit dieser Stücke dar. {Zitiert in: #207 Barthelemy Reise, 1802: Bd. 2, 77–85, hier: 78.} Der Herausgeber dieser Schriften nannte in einem Brief an Mattia Zarillo, Kustos des Museums in Capodimonte, Neapel, auch den inzwischen namentlich bekannten Fälscher, nämlich Giuseppe Guerra (gest. 1761), einen Schüler Solimenas (1657–1747).Winckelmann berichtet von einer Fälscherwerkstatt: „Die Jesuiten laßen antique Malereyen machen: dergleichen haben sie dem Markgr. von Bayreuth verkauft. Ein Porsenna auf einem französischen Fauteuil sitzend und über sich den Thron.“ [„la Dottoressa di Bareit che ne comprò quattro, e le mantiene una lampa accesa davanti come i turchi all’Alcorano”.] {Cfr.:#208 Briefe, 1952–1957, Bd. 1: 397.} {Außerdem in: #209 Sendschreiben, 1762: 31, sowie in: #210 Sendschreiben, 1997, Bd. 2, Teil 1: 87 u. 183 mit Anm. 87,13.} {Siehe auch: #77 Weber, 1996: 26.} {Weiterführend: #211 Rügler/Kunze, 1998, 97–132, hier: 115 f.} [FW] Ich habe sie sozusagen den Klauen der Engländer entrissen, bereits Anspruch auf sie angemeldet hatten. Ich nehme [mir ]die Freiheit, sie Ihnen zu schicken, mein liebster Bruder, wobei ich sie bitte, nicht zu sagen, dass sie aus Neapel ist. Ich werde mein Mögliches tun, um sie gut verpacken zu lassen, aber man wird sie mit sehr viel Sorgfalt auspacken müssen, denn sie könnte abblättern. Es gibt hier prächtige Sachen zu kaufen, aus Bronze wie aus Marmor. Die Adligen kümmern sich nicht um diese Sachen. Sie entledigen sich unter der Hand ihrer Gemälde und hängen Kopien an ihre Stelle. Diese Sachen sind für ein Butterbrot[ zu haben]. Nur die Malerei hält sich noch. Mengs steht sicherlich auf gleicher Höhe wie Guido und übernimmt sogar sehr viel von Raffael, in Bezug auf seine Komposition. Batoni ist auch ein großartiger Mann und sehr viel preisgünstiger. Die Bildhauerei verfällt. Ich habe bemerkt, dass Michelangelo, den man so sehr rühmt, nur sieben oder acht gute Stücke gemacht hat, das Übrige ist von seinen Schülern. Mit Bernini verhält es sich genauso. Alle Welt ist in Frascati, von wo man erst einige Tage vor Sankt Peter[ und Paul] Das Fest zu Ehren der Apostel Petrus und Paulus wird am 29. Juni von vielen Konfessionen gefeiert. [CW.] zurückkommt. Dann werde ich die Zeremonie der weißen Mauleselin sehen, den Papst die Pontifikalmesse halten und das Feuerwerk des Castello Sant’ Angelo, von dem man sagt, es sei einmalig. Ich ging vor einigen Tagen zum Kolosseum. Ich bin überrascht gewesen, innen rundherum mehrere Altäre zu sehen. Mein Führer, der Esprit hat und ein großer Altertumsfreund ist, sagte mir lachend: Die Päpste seien verpflichtet gewesen, diese Stätte unter dem Vorwand der Märtyrer zu segnen, um ihre Zerstörung zu verhindern. Daher wird man wohl Sankt Leon und Sankt Leopardus anrufen, die ihr Blut am Ort selbst vergossen haben, ebenso wie die Übeltäter und die Christen. Das ist die Überlegung, die ich gemacht habe. Ich glaube, dass mein Bruder Ferdinand allen Grund haben wird, mit seiner zukünftigen zufrieden zu sein. Man sagt, sie sei liebenswürdig, und einige hunderttausende Taler werden eines Tages ihre Reize vermehren. Ich habe gestern ein auf Sie gemachtes, italienisches Sonett gelesen, mein teuerster Bruder, das ich entzückend gefunden habe. Darin steht Ihr Vergleich mit Julius Caesar. Es heißt am Ende, dass Caesar sein Leben neu schrieb, und nur Sie sind würdig, das Ihrige zu schreiben. Sie kosten mich so viele Verbeugungen und Artigkeiten, dass ich davon eines Tages dürr werde oder mir die Hüfte verrenke. Denn man redet nur von Ihnen, das ist das einzige Mittel, um die Unterhaltung mit mir zu verlängern, da mir nichts lieber ist als der teure Bruder, dem gegenüber nichts der Zuneigung und tiefen Hochachtung gleichen könnte, mit welcher ich für immer sein werde,

mein teuerster Bruder,
Ihre ergebenste, gehorsame Schwester und Dienerin
Wilhelmine

Rom, den 17. Juni 1755.)